4 - 1D Nachträge und Osterhistorie [ID:15978]
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Das Phänomen Paul-Gerhard-Lieder, die vierte Vorlesungsfolge. Wir sind bei den Osterliedern.

Heute kommt noch ein drittes Osterlied. Ich möchte aber zu Beginn noch etwas nachtragen,

zu dem, was wir zuvor besprochen haben. Unser erstes fröhliches Osterlied

Auf auf mein Herz mit Freuden. Mir fällt immer nach gehaltener Vorlesung noch ganz

wichtiges ein, was ich vergessen habe zu sagen. Hier ist es etwas zu zahlen. Ob das wirklich so

wichtig ist, dürfen Sie selber beurteilen. Ich hatte erwähnt, dass das Besondere bei diesem

Lied von den vielen Besonderheiten unter anderem ist, dass dieses Versmaß, das Strophenbau,

durchaus originell ist, weshalb man das Lied auch nicht auf irgendeine andere Melodie singen kann.

Das heißt, Paul Gerhard hat bewusst eine Strophenform gewählt, die es bisher nicht gibt.

Diese Strophenform, spezieller Art, muss also irgendeinen Sinn machen. Und eine Möglichkeit,

den Sinn zu erschließen, ist schlicht die Silben zu zählen. Und diese Strophenform von

Auf auf mein Herz mit Freuden hat insgesamt 50 Silben. Der Normalfall wäre 52. Wir kommen demnächst

noch zu Liedern, die die 52 haben. Das ist die häufigste Variante. Er hat also bewusst zwei

Gekappt, und zwar liegt das in der zweiten Hälfte, wo immer die Zeitanschlüsse männlich sind,

wie man sagt, also betont. Mein Heiland war gelegt, da wo man uns ihn trägt. Und es geht

genauso weiter, wenn von uns unser Geist gen Himmels gereist. Also immer liegt unser weiter

gereist Geist harte Schlüsse, männliche Schlüsse. Und es fehlt sozusagen die weiche Nachsilbe.

Dadurch fällt zumindest zweimal die weiche Nachsilbe weg, und wir kommen auf 50 statt 52.

Was kann der tiefere Sinn von 50 Silben sein, speziell für ein Osterlied? Man darf sich klar

machen, dass der Unterschied zwischen Fastenzeit und österlichen Freudenzeit darin besteht, dass

die Fastenzeit, die Passionszeit vor Ostern, 40 Tage hat und die österliche Freudenzeit 50. Und

zwar, wenn man, es sind sieben Wochen, es sind wirklich nach Ostern sieben Wochen, sieben mal

sieben gibt 49, aber in früher hat man ja gerne zum einen aufgerundet, zum anderen anfangs

Unschlusstag gezählt, sodass man um 50 kommt. Und der Begriff Pentekoste für Pfingsten, da steckt

ja das 50 drin. Das erste Nachbemerkung zu den Silben, wir werden bei einem anderen, beim nächsten

Lied auch noch Augenmerk auf die Silbenzahl, auf die, sorry, nicht Silbenzahl, doch Silbenzahl und

auf die Zeilenzahl legen. Also Zahlen können durchaus auch bei Paul Gerhard eine Rolle spielen.

Dann das zweite war, ich hatte versprochen oder ich hatte darauf hingewiesen, dass es mir so scheint,

dass mit diesem Motiv des Reißes durch die Hölle der mystische Begriff des Raptus anklinkt,

aufgegriffen wird. Ich habe jetzt eine Gelegenheit gehabt, meinen ehemaligen Kollegen in der

Kirchengeschichte Bernd Hamm, der in Ulm lebt, eine Mail zu schreiben, der ein Experte ist für die

Frömmigkeit des Spätmittelalters, also unmittelbar vor der Reformation, aber natürlich dann auch in

der Reformationszeit und von daher auch die mystischen Begrifflichkeiten und Tradition dieser

Zeit gut kennt. Und ich habe ihn gefragt, was er zu dieser Betonung des Reißes meint bei Paul

Gerhard und er hat mir geschrieben, mit dem er reißt mich, also er reißt mich durch die Hölle,

stellt sich Paul Gerhard tatsächlich in die mystische Raptustradition, gibt ihr aber eine

neue Wendung mit dem Gedanken, dass mich Christus als seinen Gesellen durch Tod und Hölle hindurch

reißt. Es ist nicht der beseeligende Raptus des Mystikers, der ihn zu einem Vorgeschmack des

Paradieses emporreißt, sondern das existenzielle und alltägliche hindurchgerissen werden jedes

glaubenden Menschen durch Gottesferne zum auferweckenden Leben. Mystiker sprechen vom

Raptus als ein Ziel, man hofft dieses erfahren zu können, wenn man sich genügend hinein versenkt

in der Meditation, in diesem Stufenplan, den Mystiker haben, um in das ihre Seele den Himmel

empor wandern zu lassen und dass es dann passiert, dass dann sozusagen von oben man herausgerissen

wird und also Entweltlichung erfährt, sozusagen ecstatisch abgeholt wird, in den Himmel entrückt

wird, wie es Paulus ja auch mal von sich schreibt, dass er so eine Entrückungserfahrung hatte. Das ist

also etwas eine besondere religiöse Erfahrung des Mystikers und haben betont hier zu Recht,

dass wenn den Paul Gerhard drauf anspielt und er denkt ja, er spielt darauf an, dass das

Neuqualifizierende ist, dass dieses hindurchgerissen werden jetzt eben nicht mehr so etwas Spezielles ist,

dass ein besonders frommer und leistungsstarker Mensch diesbezüglich leistungsstarker Mensch

erreichen kann als Belohnung für seine Mühen, sondern dass das eben die Frucht der Auferstehung

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

00:49:33 Min

Aufnahmedatum

2020-04-29

Hochgeladen am

2020-05-16 17:46:18

Sprache

de-DE

Das Phänomen Paul-Gerhardt-Lieder II

Die Lieder von Paul Gerhardt (1607-1676) sind "Evergreens" trotz ihrer veralteten barocken Sprach- und Vorstellungswelt, trotz ihres oft schweren theologischen "Ballasts", trotz ihrer Überlänge. Die Vorlesung nimmt einzelne Lieder in Textgestaltung wie Melodiezuweisung genauer unter die Lupe, vermittelt historischen Hintergrund der Liedentstehung und gibt Einblicke in die Liedrezeption durch die Jahrhunderte in Gesangbüchern wie Kunstmusik.

Tags

Kirchenmusik
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